“Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt”

ein oft gehörter Spruch. Aber macht man sich als Traumatisierter dadurch nicht noch mehr Stress? Schließlich bedeutet das ja in der heutigen Gesellschaft nur im Ausnahmefall eine körperliche Auseinandersetzung, sondern die meisten Konflikte werden verbal, psychologisch, juristisch und politisch ausgetragen und das sollte eigentlich eher zusätzlich belastend sein.

Die Antwort darauf ist wieder scheinbar paradox: nein, es bedeutet mehr Stress, wenn eine ungute Situation wehrlos hingenommen und “geschluckt” wird. Man merkt das auch, denn man spürt eigentlich genau, dass einem hier Unrecht geschieht und man sich eigentlich wehren könnte/müsste und es ein Fehler wäre es nicht zu tun. Das Gefühl hat hier mal wieder Recht, aber das Großhirn weiß, dass man sich damit keine Freunde macht, die soziale Akzeptanz leidet usw. usw. 1000 Gründe warum man es schlucken sollte. Dazu kommt noch u.U. ein verständnisloses neurotypisches Umfeld, dem dieser Stress des Schluckens nicht viel ausmacht und dem die soziale Akzeptanz viel wichtiger ist. Dass einem Traumatisierten dieser Stress aber mehr zu schaffen macht, wird nicht verstanden und nicht selten wird dann sogar versucht einem der Widerstand auszureden.

Warum aber macht es mehr Stress, wenn man sich nicht wehrt oder wehren kann, als wenn man sich wehren kann und es auch tut. Zum einen hat man ein interessantes Experiment mit Ratten gemacht¹. Eine Ratte saß in einem Käfig und auf ein Signal hin bekam sie über die Gitterstäbe einen leichten Stromschlag, nicht sehr schmerzhaft aber unangenehm. Im Käfig war aber ein Schalter und wenn die Ratte diesen drückte, dann konnte sie den unangenehmen Stromschlag vermeiden. Man hat dann an den ersten Käfig einen zweiten mit einer zweiten Ratte aber ohne Schalter angeschlossen. Da saßen also nun zwei Ratten. Die eine saß die ganze Zeit da und hat aufgepasst, dass wenn das Signal kam, dass sie den Schalter erreicht und den Stromschlag vermeidet. Und die andere Ratte, die saß teilnahmslos in ihrem Käfig und hat ab und zu eins übergebraten bekommen, wenn die erste Ratte nicht schnell genug war. Die ungute Situation war für beide Ratten gleich. Welche Ratte bekam nun den Stress? Man sollte meinen die erste, denn es muss doch stressig sein ständig auf der Hut zu sein und unter Anspannung zu stehen um den Schalter rechtzeitig zu erreichen. Das Gegenteil war der Fall: die ohnmächtige Ratte bekam den Stress. Warum? Der Stress einer unguten Situation relativiert sich sehr stark, wenn der Betroffene das Gefühl hat “Ich hab’s einigermaßen im Griff”. Selbstwirksamkeit ist ein Anti-Stressivum, was auch biologisch Sinn macht. Wer das “Heft des Handelns” (Heft, nicht wie Schreibheft, sondern wie Feilenheft, also ein Griff) in der Hand behält, der hat zumindest die Möglichkeit eine (Lebens-)Gefahr ab- und zu seinen Gunsten zu wenden. Damit besteht keine absolute Lebensgefahr. Wer allerdings nicht handelt oder handeln kann, der setzt sich einer Gefahr ohnmächtig aus. Das bedeutet aber, dass er auch bei Lebensgefahr das Blatt nicht zu seinen Gunsten wenden kann und vollkommen der unguten, lebensgefährlichen Situation ausgeliefert ist. Auch weil er es nie geübt hat sich zu wehren. Das bedeutet dann aber wirklich Lebensgefahr und daher sind Angst und Stress berechtigt und sie sollen ja auch zum Gefahrenabwehrhandeln animieren. Daher ist es für einen Traumatisierten unter Umständen besser sich zu wehren (und die soziale Unbill in Kauf zu nehmen) als klaglos eine ungute Situation hinzunehmen. Es mag nie daraus eine lebensbedrohliche Situation werden, aber das spielt für Angst und Stress des Traumatisierten keine Rolle und daher wird es zu einer Frage des Prinzips ob man sich wehrt oder nicht. Es spielt dann auch keine Rolle ob damit ein großer oder kleiner finanzieller Verlust verbunden ist. Generell sind objektive Maßstäbe nur noch sehr eingeschränkt anwendbar. Und angesichts der Vielzahl von unguten Situationen denen man ohnehin ohnmächtig gegenüber steht z.B. bei Unfällen, Naturkatastrophen, politischen Entscheidungen von Regierungen und Parlamenten, kann es als Traumatisiertem gar zur Pflicht werden sich zu wehren, wann immer man kann um wenigstens den Stress zu reduzieren, der vermeidbar ist.

Ganz klar, man sollte sich als Traumatisierter nicht zum Streithansel entwickeln. Die Vermeidung unguter Situationen muss immer Priorität haben. Es macht sich bezahlt wenn man freundlich, fair und ehrlich anderen gegenüber tritt, denn meist wird dies honoriert und man hat mit dem anderen eben keinen Stress (und der andere mit einem auch nicht). Es ist auch besser einen nachhaltig unverträglichen Zeitgenossen zu meiden, als sich lange mit diesem herumzustreiten. Es lässt sich aber eben nicht jeder Konflikt vermeiden und man merkt auch vom Gefühl her schnell, wenn man in die Ecke gedrängt, genötigt wird. Und dann kommt es eben darauf an die “Abwehrkräfte” zu mobilisieren.

In der Prioritätenrangfolge des fight, flight, freeze muss das nachhaltige Vermeiden unguter Situationen an erster Stelle stehen, wenn das nicht mehr geht kämpfen und zur Wehr setzen, und erst wenn auch das nicht mehr möglich ist, die schlechteste aller Varianten wählen: erstarren und hoffen, dass der Säbelzahntiger einen nicht entdeckt.

¹ Schilderung aus der Serie “Geist und Gehirn” entnommen

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