Warum gibt es in der Natur so wenig traumatisierte Tiere?

Es ist ja eigentlich erstaunlich: Traumatisierungen kommen praktisch nur bei Menschen und Haustieren vor. In der Natur sind sie scheinbar (fast) unbekannt, obwohl grundsätzlich ja auch Säugetiere in der Natur traumatisierbar sind bzw. alle Tiere die einen vergleichbares limbisches System im Zentralnervensystem haben.

Die Erklärung ist relativ einfach. Ein Trauma stellt eine enorme Behinderung dar. Der Überlebenskampf in der Natur ist normalerweise gnadenlos und instinktgetrieben, ohne die Möglichkeit einer reflektierten, rationalen Entscheidung nach moralischen Maßstäben, wie es in der menschlichen Kultur der Fall ist. In der Natur ist es fast schon normal, dass sowieso nur ein Bruchteil der Jungtiere zu Adulten wird. Nahrungsmangel, schlechte Witterung, Krankheiten, Unerfahrenheit und mangelnde Anpassungsfähigkeit sorgen dafür, dass ohnehin nur wenige, die fittesten Jungtiere überleben. Da kann man sich eigentlich kein weiteres Handicap leisten, sprich: schon mit einem Malus ist man als Individuum raus aus dem Red-Queen-Rennen (siehe “Red Queen hypothesis”).

Was passiert nun in der Natur normalerweise wenn ein Jungtier traumatisiert wird? Der entscheidende Faktor ist die Mutter des Jungtieres und die Beziehung zwischen Mutter und Jungtier. Wird diese gestört, dann hat die Mutter kein akutes Überlebensproblem, das Jungtier dagegen schon, da es zum Überleben auf die Mutter angewiesen ist. Ein Jungtier das von seiner Mutter getrennt wird, kann in der Natur und in der Regel keine Hilfe von Artgenossen oder anderen Tieren erwarten. Es wird zwar eine Überlebensreaktion eintreten, was bei Menschen und Haustieren zu einer Traumatisierung führt, aber das Jungtier wird in der Regel vorher schon lange tot sein. Und das ist auch der banal-tragische Grund warum es so wenige traumatisierte Tiere in der freien Natur gibt: sie überleben in der Regel nicht lange.

Nur die menschliche Kultur macht hier eine Ausnahme in dem für Menschen und Haustiere durch das kulturelle System der sozialen Hilfe und Fürsorge eine in der Natur akut lebensbedrohliche Situation faktisch nicht mehr akut lebensbedrohlich ist. Wo man in der Natur ohne Mutter schon lange tot wäre, gibt es in der menschlichen Kultur Familienangehörige, Verwandte, Freunde, kommerzielle Dienstleister und nicht zuletzt staatliche Behörden wie das Jugendamt, die helfend eingreifen und die physischen Bedürfnisse und damit das physische Überleben des Kleinkindes sicherstellen. Das Kleinkind ist allerdings kognitiv noch nicht in der Lage, dies zu erkennen, weil es in der Hirnentwicklung noch nicht so weit ist. Die psychische Gesundheit leidet daher und genau das ist dann die Traumatisierung mit allen lebenslangen Folgeerscheinungen bis hin zum vorzeitigen Tod. Zynisch könnte man feststellen “Aufgeschoben ist nicht aufgehoben”. Das traumatisierte Individuum stirbt in der Natur fast immer sofort bei Verlust der Mutter, in der menschlichen Kultur dagegen vorzeitig auf Raten. Auch der Reproduktionserfolg dürfte aufgrund des chronisch erhöhten Stresslevels geringer und qualitativ schlechter ausfallen als bei neurotypischen Artgenossen. Traumatisierung tradiert sich eben auch von Generation zu Generation, wenn man den Dingen seinen Lauf lässt. Und am Ende holt der vorzeitige Tod den Traumatisierten immer ein, so wie die Natur die Kultur.

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