Das Autoregulations-Kontinuum

Ich hab länger suchen müssen in welcher “Geist und Gehirn” Folge Manfred Spitzer das gebracht hat, was ich gesucht habe. Jetzt endlich habe ich es gefunden: es ist die Folge – irgendwie logisch – “Kindheitstrauma”. Wer hier mitliest und für mich selbst dachte ich, dass alles was darin behandelt wird, hier schon ausführlich besprochen wurde. Aber das darin besprochene Ratten-Experiment hat meines Erachtens eine nähere Betrachtung und eine weitergehende Interpretation verdient als es Spitzer in der Sendung selbst macht.
Noch mal für alle, die diese Folge nicht gesehen haben, auf die Schnelle nicht finden oder schon wieder vergessen haben der Ablauf des Experimentes:

Es wurden zwei Gruppen von Rattenmüttern mit ihren Babies gebildet. Die eine Referenzgruppe, da wurde gar nichts gemacht. Man hat die Rattenmütter ganz normal und artgerecht ihre Babies aufziehen lassen. Bei der anderen Gruppe hat man die Babies in den ersten drei Lebenswochen, der Stillzeit, einmal am Tag “gehändelt”, also aus dem Käfig rausgenommen und kurz in der Hand gestreichelt und dann wieder zurück zur Mutter gesetzt. In der Folge rochen die gehändelten Rattenbabies für die Rattenmutter etwas “komisch” und sie kümmerte sich intensiver um diese komisch riechenden Babies. Das war der einzige Unterschied. Danach hat man alle Ratten normal und artgerecht weiter gehalten ohne Unterschied. Man hat dann nur mit allen Ratten, die aus den Rattenbabies heranwuchsen im Alter von 6 Monaten (herangewachsen), 1 Jahr (erwachsen) und 2 Jahren (Seniorenalter) mit einem Wasserirrgarten einen Hippocampustest gemacht (genaueres in der Sendung). Man konnte damit also feststellen wie gut der Hippocampus, das natürliche “Navi” im Gehirn, funktioniert und die beiden Gruppen vergleichen. Nach 6 Monaten, kein signifikanter Unterschied, nach einem Jahr auch nicht, erst nach 2 Jahren waren die nicht-gehändelten(!) Ratten der Kontrollgruppe signifikant schlechter als die gehändelten. Wohlgemerkt, der einzige Unterschied waren die ersten drei Lebenswochen mit etwas intensiverer Brutpflege der Rattenmutter durch das Händeln der Babies. Danach gab es keinen Unterschied mehr in der Haltung.
Spitzer interpretiert dies in seiner Sendung nun so, dass am Anfang durch das bisschen mehr an Stress im Babyalter durch das Weniger an “Betüddeln” durch die Rattenmutter in der Kontrollgruppe ein kaum merkbarer Mechanismus in Gang gesetzt wurde, der zu weniger “Dämpfung”, mehr an Stress, weniger Dämpfung usw. führte und dessen Auswirkungen erst im Seniorenalter durch einen kaputten oder weniger funktionellen Hippocampus sich “klinisch” manifestiert haben.

Vor dem Hintergrund dieses Blogs denke ich, muss man dieses Experiment und die Konsequenzen für uns Menschen etwas differenzierter interpretieren. Es war ja nicht so, dass die Rattenbabies in der Referenzgruppe massiv traumatisiert wurden und deswegen mehr Stress hatten. Es ist auch relativ unwahrscheinlich, dass das bisschen mehr an Stress sich über das Leben sukkzessive in einem Regelkreis akkumuliert hat. Weit wahrscheinlicher ist die Modellvorstellung, die hier schon vorgestellt wurde:
In der frühen Kindheit lernt das Kind nicht nur was Angst und Stress ist, sondern auch durch und von seiner Mutter wie es diesen Stress autoreguliert. Das ist wie bei jedem normalen Lernvorgang zuerst kein Automatismus, sondern muss über Wiederholung im Kontakt mit der Mutter in der frühen Kindheit gelernt werden. Und wie bei jedem normalen Lernvorgang kann dieser besser oder schlechter ausfallen, in diesem Fall hängt der Lernerfolg praktisch zu 100% von der Mutter ab. Je intensiver die Brutpflege um so besser lernt das Kind seine Emotionen zu autoregulieren. Hier gibt es keine “normale” Entwicklung, einen Standardwert. Es gilt: je besser die Brutpflege durch die Mutter um so besser das Erlernen der Autoregulierung. Die “normale” Kontrollgruppe der Rattenbabies haben die Autoregulation schlechter erlernt als die “Händel”-Gruppe. Die Folge war eine signifikante funktionell schlechtere Autoregulation von Angst in der Kontrollgruppe und damit mehr Stress – von Anfang (nach den drei ersten Lebenswochen) an über die gesamte Lebenszeit!
Kein kleiner unmerklicher Effekt, der sich erst im Laufe des Lebens aufgeschaukelt hat.

Aber wie passt das zur Tatsache, dass die Kontrollgruppe bis zum Alter von einem Jahr beim Hippocampustest genauso gut war wie die Händel-Gruppe? Sind nicht, wenn über das ganze Leben gleich viel mehr an Stress ist, auch proportional und signifikant schlechtere Hippocampustestergebnisse gegenüber der Händelgruppe zu erwarten?
Dazu muss man den Hippocampus verstehen wie dieser funktioniert. Der Hippocampus ist eine stresssensitive Hirnregion und geht durch Stress im laufe des Lebens kaputt. Je mehr Stress jemand hat, desto mehr geht der Hippocampus kaputt. Soweit richtig. Der Hippocamnpus hat allerdings eine Eigenschaft, die als graceful degradation bezeichnet wird, schlecht übersetzt “gnädiger Abbau”.
Das bedeutet, dass sich eine Schädigung des Hippocampus nicht klinisch nach außen hin bemerkbar macht – zumindest nicht vorerst. Der Hippocampus kann zu 50% oder gar 70% schon kaputt sein und man merkt selbst und nach außen hin keine funktionellen Defizite. Erst wenn ein gewisser Schwellenwert um die 80% und mehr kaputt erreicht wird, dann erst machen sich Ausfallerscheinungen klinisch, nach außen hin bemerkbar. Der Hippocampus der Kontrollgruppe wurde über das ganze Leben so viel stärker geschädigt als die Händelgruppe, dass im Alter der Schwellenwert der Schädigung überschritten wurde und sich dann erst der Unterschied klinisch manifestierte. Die Schädigung des Hippocampus der Händel-Gruppe hatte im Alter noch nicht den Schwellenwert erreicht.
Man darf sich also nicht durch das bisschen mehr oder weniger Stress am Anfang täuschen lassen und daraus einen sich aufschaukelnden Prozess ableiten. Das Erlernen der Autoregulation ist das Entscheidende. Nach der Stillzeit wenn die Kinder entwöhnt sind, ist dieser abgeschlossen und die Fähigkeit dazu für den Rest des Lebens fixiert. Je nachdem wie gut jemand diese Autoregulation erlernt hat, kann er mit Angst und Stress, die jedes Tier mit einer Amygdala hat, besser oder schlechter umgehen. Das funktionell Entscheidende ist aber eben schon vorher passiert. Das danach sind nur noch die Konsequenzen daraus. Das bedeutet aber auch, dass nach der Kindheit in dieser Hinsicht nichts mehr zu retten ist.

Als Schlußfolgerung ergibt sich ein Kontinuum der Fähigkeit zur Autoregulation von Emotionen. Je besser/schlechter die Brutpflege der Mutter im Stillzeitalter um so besser/schlechter wird die Autoregulation erlernt. So gut/schlecht wie die Autoregulation erlernt wird, so bleibt sie den Rest des Lebens.
Im worst case wird man ein schwer traumatisiertes Kind und später Erwachsenen haben, mit schweren psychischen, physischen und sozialen Problemen, der früh an einer “Zivilisationskrankheit” sterben wird, wenn er nicht schon vorher Suizid begeht oder an den Nebenwirkungen einer stofflichen Sucht wie Alkohol oder harten Drogen stirbt.
Am anderen Ende stehen die Menschen, die locker über 100 Jahre alt werden und vollkommen frei von “Zivilisationskrankheiten” bleiben. Ihnen fällt das Glück praktisch in den Schoß. Intelligenz, beruflicher und familiärer Erfolg, Freunde, fröhliches Gemüt, positive Lebenseinstellung. Ja selbst die “üblichen Verdächtigen” wie Rauchen (z.B. Helmut Schmidt, Marie-Louise Meilleur, Jeanne Calment), Alkohol (Queen Mum), schlechte Ernährung (Betty White) etc. können ihnen kaum etwas anhaben. Die Altersrekordhalter, die Supercentenarians, sind wohl die Menschen die die ultimative mütterliche Brutpflege erfahren durften. Sie sterben fast ausschließlich an Altersschwäche bzw. Organversagen.

Japan ist ein Land voll mit solchen aktiven, gesund alternden Menschen und hat sogar die “Inseln der 100-Jährigen”, was aufgrund der Hingabe und Unzertrennlichkeit zwischen Mutter und Kind (Amae und Oyako) kein Wunder ist. Wenn sich allerdings die Womenomics der Abenomics durchsetzen, dann dürfte sich das ändern. Dazu mehr demnächst in einem eigenen Artikel.

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