Arno Funke alias “Dagobert”

Ich schaue immer wieder mal Dokumentationen über mehr oder weniger bekannte oder unbekannte “Promis” an oder lese Artikel über sie. Das erstaunliche daran ist immer wieder, dass man dieses mit dem Hintergrundwissen aus diesem Blog mit ganz anderen Augen sieht und sich automatisch fragt “Was war mit der Mutter?”

Aus der Sendereihe “Die großen Kriminalfälle” gibt es eine Doku über Arno Funke alias “Dagobert”. Angst spielte in seinem Leben eine starke Rolle. Kurz wird ein Rückblick auf seine Kindheit und familäre Probleme geworfen. Bürgerlicher Haushalt. Vater verlässt früh die Familie. Mutter alleinerziehend und vermutlich berufstätig, da Arno als Schlüsselkind bezeichnet wird. Sitzenbleiber in der Schule und dort wenn nur körperlich anwesend. Dann auch im Leben als Erwachsener immer “unterwegs” körperlich und geistig, voller Unrast. Sehr bezeichnend seine Malerei, die er schon als Kind beginnt und autodidaktisch beibringt. Seine Themen: Einsamkeit, Angst, eingesperrt sein. Er bezeichnet sich selbst als seit seiner Pubertät depressiv. Suizidgedanken. Nach außen hin der Spaßvogel, aber innerlich leidend. Ist oft krank, hat Gleichgewichtsprobleme und Schwindelanfälle. Dazu dann Alkoholprobleme und Schulden. 1988 dann der Tiefpunkt. Doch statt sich mit einer Pistole, die er besitzt, umzubringen, fängt er an Bomben zu bauen. Der Gedanke dabei: “Wenn du dich jetzt eh umbringen willst, dann kannst du alles mögliche probieren. Du musst dich ja an keine Regeln mehr halten.” Doch das Geld aus der erfolgreichen ersten Erpressung löst natürlich nicht seine Probleme. Seine Erwartungen an Glück und Zufriedenheit erfüllen sich nicht. Stattdessen eine emotionale Leere. Im Film werden die psychischen und gesundheitlichen Problem Funkes durch den psychachtrischen Gutachter auf die chronische Vergiftung durch Lösemittel in seinem Beruf als Airbrusher zurückgeführt. Nur wie zuvor dargelegt, existierten diese emotionalen Probleme schon in Kindheit und Jugend. Es mag zwar einen verstärkenden Effekt durch die Exposition mit den Lösemitteln gegeben haben, aber die Ursachen müssen schon früher gewesen sein. Leser dieses Blogs wissen natürlich wo diese zu finden sind. Funke beginnt ein Doppelleben: einerseits täuscht er Arbeit, Einkommen und Familienleben vor, andererseits bastelt er in einer angemieteten Werkstatt wieder an Bomben und an raffinierter Technik zur Geldübergabe und Plänen die Polizei mittels Technikattrappen und Überraschungseffekten “hinters Licht zu führen” und dieser immer einen Schritt voraus zu sein. Doch die Polizei hatte gleichermaßen entschieden nur Geldattrappen zu übergeben, da sie den Täter als Wiederholungstäter der ersten Erpressung vermuteten. Dies führte nun zur Eskalation mit Funke, der sich wiederholt “nicht ernst genommen” und genötigt sah jeweils die nächste Stufe der Erpressung zu zünden. Der nächste Bombenschaden lag bei 6 Millionen DM, weit über den zuvor geforderten 1 Million DM. Und da wurde der Polizei und ihren Profilern nicht nur klar, dass sie Funke komplett falsch eingeschätzt hatten, sondern, dass sie es hier mit einem hochintelligenten Menschen zu tun hatten, der seine Intelligenz allerdings in kriminelle Energie umsetzte. Funkes IQ-Test lag bei 120, also im oberen 10%-Bereich der Bevölkerung und im sprachfreien Test sogar bei 145, dem möglichen Maximum. Und woher rührt diese Intelligenz? Wieder in der Kindheit! Statt in die Schule geht er lieber in die Bücherei und macht sich – im wahrsten Sinne des Wortes – schlau: Chemie, Physik, Elektronik. Ironischerweise mindert das Kräftemessen mit der Polizei seine Depressionen. Funke hat eine “Aufgabe”, ein Problem zu lösen. Psychologisch auch hier wieder klar: Selbstwirksamkeit mindert Angst und Stress.

Psychologisch auch interessant: die Ermittler auf Seiten der Polizei, die gleichermaßen hoch und mit Menschenleben pokern und durch ihre öffentlichen Niederlagen und das höhnische Presseecho wie ihr Täter in die psychologische Abwärtsspirale getrieben werden. Ironischerweise waren die beiden an der Fahndung beteiligten Psychologen sich über Funke uneins, was nicht verwundert, da diese “wissenschaftliche” Disziplin bis heute mangels wissenschaftsbiologischer Erdung eher Kaffeesatzleserei und cargo cult science ist als richtige Wissenschaft. Die Polizei fährt den Fahndungsaufwand personell und materiell hoch. Doch obwohl Funke einen Fehler begeht, kommt für die Ermittler zu allem Unglück auch noch Pech dazu, was massenmedial als “Polizist rutscht auf Hundehaufen auf” ausgeschlachtet wurde.
Aufwand und Nutzen stehen bei der Polizei in einem klaren Missverhältnis, was sich auf die Verantwortlichen zusammen mit dem öffentlichen Druck psychisch doppelt belastend auswirkt. “Dagobert” dagegen punktet als “Robin Hood” in der öffentlichen Wahrnehmung. Und er narrt und verblüfft die Polizei, die sich auf das Konzept “Bahn” fokussiert hatte, erneut mit etwas ganz Neuem: die Streusandkiste mit dem darunter verborgenen Kanaldeckel. Auch die technische Aufrüstung seitens der Polizei mit Bewegungsmelder im Geldpaket läuft vorerst ins Leere. Aber wieder kein Geld. Frust auch bei Funke. Auf Seiten der Polizei dann auch noch der Verdacht “Dagobert” könnte ein Insider der Polizei sein. Doch auch hier denkt man über Neues und neue technische Möglichkeiten nach: die Überwachung des Telefonnetzes. Mit 3000 Beamten werden Telefonzellen überwacht, aber nur in West-Berlin. Und “Dagobert” narrt die Polizei wieder mit einem Anruf auf dem Ostteil Berlins. Doch auch bei Funke liegen die Nerven blank: er schreibt direkt an die Polizei und ihre Psychologen und kündigt an, dass er auch bereit ist Menschenleben zu gefährden in der Hoffnung, dass die andere Seite zuerst die Nerven verliert. Und der erpresste Karstadt-Konzern drängt dieses mal auf echtes Geld. Funke läuft mit seinem Monorail-Geschoß, Stolperdrähten und Pyrotechnik noch einmal zu technischer Höchstleistung auf. Pech diesmal für Dagobert, dass die Lore kurz vor seinem Versteck entgleist.
Da Funke entgegen seiner Ankündigung vor sich selbst nicht bereit war Menschenleben zu gefährden und zum Mörder zu werden, war für ihn damit die Luft aus der Sache raus, ein “totes Rennen” wie er selbst sagt. Seine kurze Zeit später erfolgte Verhaftung ist quasi eine Erlösung. Sein Statement am gleichen Tag: “Bin im Stress gewesen und unvorsichtig geworden”. Seine Lösemittelvergiftung wurde angeblich im Gefängnis erkannt und erfolgreich behandelt, aber an der vermutlich frühkindlichen Traumatisierung dürfte das nichts geändert haben.

Bei Funke lassen sich wieder die typischen Merkmale einer komplexen, durch frühkindliche Traumatisierung entstandenen PTBS feststellen. Angst ist aufgrund der nicht erlernten emotionalen Autoregulation der dominierende Faktor in seinem Leben. Er kompensiert dies schon in der Kindheit durch überdurchschnittliche Intelligenz, allerdings auf nicht-schulischem Gebiet sondern im naturwissenschaflich-technischen Bereich. Die Malerei ist ein ebensolcher Kompensationsversuch. Seit seiner Jugend begleiten ihn Depressionen und Suizidgedanken. Aufgrund mangelnder Lenkung seiner Intelligenz und Fähigkeiten in nicht-kriminelle Bahnen, bekommt er sein Leben nicht unter Kontrolle und rutscht immer mehr ab. Sein Risikoverhalten beginnt mit Alkohol und Schulden und mit 38 Jahren steht er vor dem Nichts und sieht sich schon tot. Weniger intelligente Menschen als Funke hätten die Suizidpläne mangels Alternativen wahrscheinlich in die Tat umgesetzt. Funkes Intelligenz erlaubte ihm jedoch eine kriminelle Karriere, die ihresgleichen sucht. Einmal mehr die Bestätigung der Weisheit, dass Genie und “Wahnsinn” dicht beieinander liegen. Und dass er über diesen “toten Punkt” in seinem Leben hinweg kam. Im Interview der Dokumentation gibt er sich sehr selbstreflektiert, was für hochintelligente Menschen auch sehr typisch ist.

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One Response to Arno Funke alias “Dagobert”

  1. cassiel says:

    In der Berliner Zeitung ist gerade ein langes, lesenswertes Interview mit “Dagobert” und seinem “Jäger” erschienen.

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