Serien-Review: Das Haus am Hang

English The House on the Slope
France La maison de la rue en pente
Germany Das Haus am Hang
Japan 坂の途中の家
Taiwan 坡道上的家

“Das Haus am Hang” oder eher “Das Haus (mit seiner Familie) am Abgrund” ist eine sechsteilige japanische Miniserie von 2019, die seit kurzem bei arte zum Download bereit steht.
Sie spielt im Japan von heute, genauer im Jahr 2017. Eine Mutter steht für den mutmaßlichen Mord an ihrem acht Monate alten Kind vor Gericht, einem Geschworenengericht mit drei Hauptrichtern (zwei Männer und eine Frau), sowie acht Laienrichtern, davon zwei Ersatzrichter. Eine der Ersatzrichter ist die Protagonistin der Serie, die ebenfalls Mutter ist, von einem etwas über dreijährigen Mädchen. Im Laufe des Prozesses tun sich parallel zu Offenlegung der familären und sozialen Verhältnisse der Angeklagten vor Gericht auch bei der Protagonisten immer mehr Abgründe auf, die die kleine Familie aus Vater, Mutter und Tochter vor die Zerreissprobe stellt. Neben der Protagonistin werden einige der anderen Laienrichter und die eine Richterin, die ebenfalls Mutter eines erst ein Jahr alten Kindes ist, und ihre familiären Konflikte in Szene gesetzt. Sie alle machen eine Entwicklung durch und am Ende selbst der Hauptrichter, der das Strafmaß festlegt und die Urteilsbegründung verliest.

Die gesamte Serie ist ein Psychogramm des modernen Japan, einem ostasiatischen Land im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, dem Festhalten an althergebrachten Rollenbildern der Geschlechter und dem Zwang sich neuen Rollenverständnissen zu öffnen. Dabei wird zwar insbesondere die Rolle der Frau als (potentielle) Mutter thematisiert, aber auch die der Männer als (treulose) Väter und die der Gesellschaft mit ihren Erwartungen an das Individuum. Und alles dreht sich um Emotionen: Liebe und Angst, Verständnis und Unverständnis/Manipulation/psychische Gewalt, Bindung und sich allein (gelassen) fühlen. Die Serie ist, vor allem am Schluß, emotional sehr bewegend, aber ich denke erst mit den Hintergrundwissen aus diesem Blog, in dem ich mich ja häufig auf Japan und Amae und Oyako beziehe, sowie über den Aufbau des japanischen Staates, oder allgemein fernöstlich-asiatischer Gesellschaften kann man verstehen was in dieser Serie passiert.

Vorweg eine cineastische Beurteilung: ich muss sowohl Drehbuch, die schauspielerische Leistung und auch Bild und Schnitt und auch die Regie sehr loben. Das Drehbuch von Eriko Shinozaki, nach einer Vorlage von Mitsuyo Kakuta, ist hochrealistisch, aber nicht weniger melodramatisch und fesselnd. Die Schauspieler sind absolut überzeugend in ihren Rollen ohne diese zu übertreiben. Was in deutschen Produktionen häufig als schmalzig, übertrieben gekünstelt oder schlicht peinlich inszeniert wird, kommt hier absolut natürlich und glaubhaft rüber. Keinerlei Effekthascherei, sondern geschickte Rückblenden und Flashbacks, die die psychische Verfassung der dargestellten Personen unterstreicht und im wahrsten Sinne des Wortes mit einer eindringlichen Bildsprache veranschaulicht. Die Regie von Yukihiro Morigaki ist vor allem eins: unauffällig! Man merkt gar nicht, das Regie geführt wurde, weil alles so natürlich und ungekünstelt wirkt. Filmisch absolut solides Handwerk ohne auffällige Schwächen.

Als nächstes eine kurze Einführung Japan – quick&dirty was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Japan ist wie alle ostasiatischen Kulturen eine Reisanbaukultur. Reis ist auf Wasser angewiesen und Reisbauern müssen dafür extrem kooperieren: das Wasser kommt von einem Bauern zum nächsten usw. In dieser Kette darf niemand aus der Reihe tanzen. Die japanische Gesellschaft ist daher extrem auf Konformität und Loyalität gebürstet. Alles muss um jeden Preis am Laufen gehalten werden, und sei es nur der schöne Schein davon. Das hat zur Folge, dass dort sehr viel unter den Teppich gekehrt wird und der Mantel des Schweigens über Negativem ausgebreitet wird. Immer und überall gilt es das Gesicht zu wahren, sowohl das eigene als auch das des anderen. Kinder lernen schon früh zu funktionieren und die Erwachsenen sehen es als ihre Aufgabe an dies an ihre Kinder zu vermitteln. Aber je schöner der schöne Schein um so tiefer die Abgründe hinter der Fassade. Die Abgründe der japanischen Kultur und Geschichte dringen nur selten an die Öffentlichkeit: Not, Elend, Armut, Suizid am Rande der Gesellschaft, Karōshi, Sadismus, ein zweifelhaftes Justizsystem, Walfang, grausames Abschlachten von Delphinen als Volksfest, Japan als Kolonialmacht und kriegführende Macht im zweiten Weltkrieg inkl. aller Kriegsverbrechen. Die Liste, die kein Japan-Tourist zu sehen bekommt, ist lang. Der Kindsmord in der Serie spült da einiges was da von der Gesellschaft und den Individuen verdrängt wird, nach oben an die Oberfläche.
Über das moderne Japan muss man auch wissen, dass Japan seit der zwangsweisen Öffnung des Landes durch Commander Perry’s “Schwarze Schiffe” im 19. Jh, eine enorme industrielle Aufholjagd bis hin zur Hegemonialmacht in Ostasien hingelegt hat. Japan hat alles vom Westen gnadenlos(!) kopiert, auch den Kapitalismus und der sieht nun mal Mütter in erster Linie als Humankapital, das es zu verwerten gilt und wie es in den Abenomics in jüngster Zeit in einem Japan, dass seit den 1980ern sich in einer wirtschaftlichen Dauerkrise befindet, zum Ausdruck kommt. Männer wie Frauen stehen in Japan mehr denn je unter wirtschaftlichem Erfolgsdruck in einer kapitalistisch durchgestylten Wohlstandsgesellschaft.

Über das Verhältnis zwischen Eltern und Kind, weiß der geneigte Blog-Leser, dass dies in Japan traditionell ein sehr inniges ist (Oyako). Es ist vollkommen normal und sozial kontrolliert, dass eine Mutter beim ersten Kind voll Hausfrau und Mutter wird. Ebenso, dass der Mann die Familie zu ernähren hat. Dies hat eine außergewöhnliche Stresstoleranz der Japaner zur Folge, was sich in einer hohen Lebenserwartung und das bei bester Gesundheit auswirkt. Im Gegensatz zu westlichen Kulturen, die die Freiheit des Individuums und die Entwicklung seiner Individualität in den Vordergrund stellen und wo Kinder und Alte wenig geschätzt werden, ist es in Japan geradezu umgekehrt: Kinder (unter drei Jahren) und Alte werden hoch geschätzt, das mittlere Alter dagegen steht unter enormem Anpassungsdruck an die Gesellschaft, was in großer Unfreiheit zum Ausdruck kommt.

Auch weiß der Blog-Leser hier, wie wichtig es ist, dass ein Kind in der Phase der emotionalen Geburt die emotionale Autoregulation von seiner Mutter gut erlernt und dass sich existierende Defizite bei der Mutter auf das Kind tradieren. Mitsugo no tamashii hyaku made ist hier im Blog die Standardweisheit aus Japan. Des weiteren ist gerade für psychisch labile Menschen echtes Verständnis und eine unterstützende Beziehung enorm wichtig. Des weiteren unterscheiden sich Männer und Frauen evolutionär in ihrer Partnerwahl- und Fortpflanzungsstrategie: Frauen haben nicht selten eine sehr materialistische Einstellung um dem eigenen Nachwuchs (der sicher von ihnen stammt) die besten Überlebenschancen zu bieten. Sie orientieren sich daher in der Partnerwahl immer nach oben, praktisch nie nach unten. Und wenn sich nur eine mittelprächtige Kopfwehpartie als Partner findet, dann wird in der Ehe nachgeschoben, dass aus dem Partner noch was wird. Männer haben dagegen keine Partnerpräferenzen in dieser Art. Hier ist Quantität wichtiger als Qualität.

In der Serie sind es die Protagonistin und die Angeklagte im Prozess, die beide ein sehr angespanntes Verhältnis zu ihren Müttern hatten und noch haben. Dies wird eindringlich im Lauf der Serie skizziert. In der Folge haben diese ein Defizit in der emotionalen Autoregulierung, was sich auf ihre Kinder überträgt und diese auf die Mutter negativ reagieren lässt, was diese wiederum zu negativen Reaktionen veranlasst. Der Teufelskreis der Angst. Mit Alkohol wird versucht die Angst zu dämpfen, was natürlich keine Lösung ist. Dazu kommen in beiden Fällen Probleme mit dem Partner, der sie nicht unterstützt, sondern emotional manipuliert und psychisch misshandelt. Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes im Film ist die erste, die dies offen anspricht und die richtigen Fragen stellt. Die Protagonistin und ihr Mann wollen dies alles aber nicht wahr haben und versuchen die Fassade der glücklichen Familie aufrecht zu erhalten. Die Sozialarbeiterin kann aber auch keine konstruktive Verbesserungsvorschläge für eine bessere Partnerschaft machen z.B. durch Paargespräche oder wie eine unterstützende Beziehung funktioniert. Hier enden wohl die psychologischen Kenntnisse der Drehbuchautoren, wie generell wenig psychologisches und Hirnentwicklung- und evoutionäres Hintergrundwissen in die Serie einfliesst. Die Protagonistin erkennt sich lediglich in der Angeklagten wieder und kann sie und sich schließlich besser verstehen, auch wenn das Bild letztlich unvollständig auf Küchenpsychologie-Niveau verbleibt. Die Richtung, wie sie dann auch Dank des beeindruckenden Outing der Protagonistin vor dem Richterkollegium in der Urteilsbegründung zum Ausdruck kommt, stimmt zwar, allerdings fehlen die Erkenntnisse über frühkindliche Traumatisierung und die Schlußfolgerungen daraus. Wenn die Richterin am Schluß versucht doch weiter Karriere zu machen, zwar ihren Sohn mitnimmt, aber eine abwesende Mutter bleiben wird, dann ist das klar.
Die Serie thematisiert das gesellschaftliche Spannungsfeld junger Paare: Kinderwunsch, Partnerschaftsprobleme, wirtschaftlicher Druck, gesellschaftlicher Druck von außen, psychische Probleme, ein mangelhaftes soziales Umfeld, dass alle Probleme verstärkt, statt sie durch Verständnis und aufrichtige Unterstützung abzumildern. Andererseits wird auch die Hilf- und Ahnungslosigkeit aller Beteiligten demonstriert. Es gibt immmer einen Punkt der Ratlosigkeit wo Probleme als schicksalhaft, Schuld des einen oder des anderen oder im Widerspruch zur Tradition abgetan werden ohne weiter zu hinterfragen, was die Ursachen sind. So werden die Erziehungsprobleme der Angeklagten und der Protagonistin einfach damit abgetan, dass sie einfach nicht als Mutter “gemacht” wären. In der Urteilsbegründung zum Schluß wird die Verantwortung des sozialen Umfeldes angedeutet, aber nicht näher aufgelöst. Das Happy End der Familie der Protagonistin wirkt da dann ein wenig aufgesetzt und konstruiert: das vorher ständig weinende und die Mutter abweisende Kind ist auf einmal total lieb zu seiner Mutter und freut sich nur noch. Aber irgendwie musste die Handlung eben “rund” werden. Ein realistisches Ende wäre eine Aufklärung durch einen Psychologen oder die Sozialarbeiterin gewesen, der Anfang einer gemeinsamen Paartherapie hin zu einer unterstützenden Beziehung. Das wäre eine konstruktive Wendung zum Positiven in der Zukunft gewesen und für die japanische Gesellschaft lehrreich gewesen. So bleibt eher das Gefühl “Puhh, ein Glück, dass ich von sowas verschont geblieben bin”. Aber der Film zeigt eben auch, was da unter dem schönen Schein der ach so sauberen japanischen Gesellschaft brodelt und wie die Vulkane auf Japan ausbrechen kann. Und dass es auch die treffen kann, bei denen vermeintlich alles “in Ordnung” und “normal” ist.
Zum Männerbild in der Serie ist zu sagen, dass dies sehr antiquiert gezeichnet wird. Sie lassen sich die meiste Zeit wie Paschas bedienen und gehen selbstverständlich davon aus, dass die Frau ihre Karriere und sich für das Kind opfert. Ihnen obliegt es Überstunden zu machen, auch wenn diese zu Schäferstündchen mit der Geliebten werden und auch sonst für das Geld und die Ansprüche der Gattin zu sorgen. Auch hier fehlt es deutlich an Erkenntnis und Einsicht, dass die Männer genauso Täter wie Opfer sind und wie die Frauen am Ende auch nur Verlierer sind, wenn sie alles so weiterlaufen lassen. Die Erkenntnis, dass sich Männer und Frauen nur gemeinsam und nicht gegeneinander aus dem Schlamassel befreien können, kommt in der Serie auch zu kurz. Es fehlt sowohl ein stimmiges, neues Männer- und Frauenbild, das nicht zu Lasten der Kinder geht.

Was jedoch auffällt bei der Serie, dass es außerhalb des Gerichtssaals jede Menge psychologisches Fachpersonal gibt: Sozialarbeiter, Psychiater, Kliniken. Nur im Gerichtssaal und in den Beratungen der Richter und Laienrichter fehlen diese. Normalerweise sind in solchen Fällen heutzutage psychologische Gutachten üblich oder zumindest eine Beratung der Richter durch Sachverständige aus diesem Bereich. In der Folge spekulieren die Richter und Laienrichter ziemlich wild und ohne wirkliche Sachkenntnis über den Fall. Das ist eindeutig eine Schwachstelle, die aber nur jemandem auffällt, der vom Fach ist und ähnliche Prozesse kennt. Ein solcher Sachverständiger wäre aber wohl der Dramatik und der Spannung und dem Selbsterkenntnisprozess der Protagonistin abträglich gewesen.

Der Film auf arte ist OmU (Original mit Untertiteln). Wer das nicht gewohnt ist, dem fällt es unter Umständen schwer der Handlung des Films zu folgen. Wer japan- und filmaffin ist der tut sich deutlich leichter. Und auch mit dem Hintergrundwissen aus diesem Blog hat man deutlich mehr Spaß an der Serie bzw. erkennt leichter das Muster hinter dem Verhalten der Figuren. Man muss das Puzzle nicht blind zusammensetzen und dann raten, sondern hat schon das Gesamtbild, das “big picture” im Kopf.

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One Response to Serien-Review: Das Haus am Hang

  1. cassiel says:

    Ich informiere mich über Japan jetzt auch auf sumikai.com und hab da drei aktuelle Beiträge gefunden, die aufzeigen wie schizophren sich die japanische Gesellschaft inzwischen entwickelt:
    USA wollen Japan beim Ausbau des Arbeitsmarktes für Frauen unterstützen
    Plan zur Erhöhung der Geburtenrate weckt Befürchtung über Steuererhöhungen in Japan
    Viele berufstätige Frauen in Japan wären lieber Hausfrau und Mutter
    Ich denke diese drei Artikel sind repräsentativ zwischen dem konservativen, aber biologisch sinnvollen Verharren in den traditionellen Geschlechterrollen und den Bestrebungen der – besonders von den USA forcierten – kapitalistischen Vollverwertung der Frauen und eben auch der Mütter in Japan.
    sumikai.com berichtet im Gegensatz zu asienspiegel.ch auch kritisch über Japan.

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