Astrid Lindgren

Ich bin ja mit den Büchern und Filmen von Astrid Lindgren aufgewachsen und bis heute hält meine Faszination für ihre Geschichten, ihre Erzählweise und ihren Humor an, aber auch die traurigeren Aspekte ihrer Geschichten über Armut, Einsamkeit, Verlassensein und Tod berühren mich immer wieder bzw. immer noch. Nur inzwischen interessiere ich mich nicht mehr nur für die Geschichten und die Filme an sich, sondern auch für die biographischen Hintergründe der beteiligten Personen. Da ist inzwischen sehr viel online zu finden. Und inzwischen habe ich ja den Blick für die Dinge hinter den Dingen. Und ich schaue da auch immer darauf wie alt jemand geworden ist und da ist mir im sozialen Umfeld von Astrid Lindgren ein Muster aufgefallen: viele Personen um Astrid Lindgren sind entweder auffallend alt geworden oder relativ früh gestorben. Und bei den früh verstorbenen sind die Todesursachen mal wieder unter den üblichen Verdächtigen zu finden: Krebs und Alkohol.

  • Sture Lindgren (Ehemann), 53 (Alkoholsucht)
  • Lars Lindgren (Sohn), 59 (Alkoholsucht)
  • Louise Hartung (Brief-Freundin), 60 (Krebs)
  • Olle Hellbom (“Haus”-Regisseur), 56 (Krebs)
  • Tage Danielsson (Regisseur von “Ronja, Räubertochter” – Ersatz für Olle Hellbom), 57 (Krebs)
  • Allan Edwall (Darsteller vieler Vaterfiguren in Astrid Lindgren Filmen), 71 (Krebs)
  • Gunnar Ericsson (Bruder), 68 (???)

Auf der anderen Seite auch viele langlebige Personen:

  • Astrid Lindgren, 94 (Virus Infekt)
  • Samuel August Ericsson (Vater), 94 (???)
  • Hanna Ericsson geb. Jonsson (Mutter), 82 (Herzschlag)
  • Stina Hergin (Schwester), 91 (???)
  • Ingegerd Lindström (Schwester), 81 (???)
  • Karin Nyman (Tochter), 87+

Wenn man dann noch weiß, dass es zwei entscheidende Männer in Astrid Lindgrens Leben gab: ihr Vater Samuel August und ihr Sohn Lars. Astrid Lindgren sagte selbst, dass ihr Vater ihr sehr viel von sich, seiner Kindheit und Familie erzählt hat. Von ihm hat sie sicher die Gabe Geschichten zu erzählen. Ihr Sohn Lars, den Astrid Lindgren mit 19 Jahren unehelich bekam und den sie für drei Jahre in Dänemark in Pflege gab oder geben musste, war ein Wendepunkt in ihrem Leben. Lt. Aussage ihres Enkels hat sie es nie verwunden ihr Kind in Pflege gegeben zu haben. Sie selbst sagte, dass sie auch ohne das Schicksal von Lars Schriftstellerin geworden wäre, aber keine so weltberühmte. Lars war der Grund oder die Blaupause für die vielen und traurigen Kinder, meist eben Jungen, in ihren Geschichten. Es ist mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass ihr Sohn Lars frühkindlich traumatisiert war, da seine leibliche Mutter bis nach der kritischen Zeit abwesend war. Obwohl Lars sich mit seiner Pflegemutter als seine richtige Mutter identifizierte und tieftraurig war als er zu seiner leiblichen Mutter zog, war diese offensichtlich kein vollwertiger Ersatz für die leibliche Mutter. Sie wurde auch krank und konnte deswegen vielleicht schon vorher sich nicht mehr richtig um Lars kümmern, jedenfalls so wie es zum Erlernen der emotionalen Autoregulation notwendig gewesen wäre. Genau kann man das natürlich nicht mehr wissen, aber die spätere Alkoholsucht und der frühe Tod sprechen eindeutig dafür. Ihr Sohn Lars könnte die Blaupause für die vielen Kontakte Lindgrens zu Menschen mit die auch frühkindlich traumatisiert waren und später an Krebs oder Alkoholsucht starben, gewesen sein. Bestimmte Kompensationen die Lindgren ansprachen und die Lindgren in ihren Geschichten ansprach stellten gewissermaßen eine unsichtbare Verbindung dieser Menschen zu Lindgren her. Lindgren konnte sich aufgrund von Lars in sie einfühlen und umgekehrt sahen sie in Lindgren die verlorene Mutter bzw. fanden den Lebens- und Leidenstrost den Lindgren in ihren Geschichten vermittelte: die Erlösung aus einer freudlosen Kindheit in eine heile und unbeschwerte Natur-, Kinder- oder Abenteuerwelt. Es war wohl das “Geheimrezept” für Astrid Lindgrens Erfolg, dass sie gleichermaßen alle Kinder, die fröhlichen und die traurigen, und alle erwachsenen Kinder, die fröhlichen und die traurigen, aber vor allem die traurigen, gleichermaßen ansprach. Astrid Lindgren meinte selbst, dass ihre Geschichten viele Kinder “geheilt” habe. Das ist zwar im engeren Sinne stark übertrieben, da es von einer frühkindlichen Traumatisierung keine wirkliche Heilung gibt. Aber sie spendete ihnen den Lebens- und Leidenstrost, der manchen Kindern und Erwachsenen das Leben und auch den Tod erträglich machte. Es ist auch sehr bezeichnend, dass die langlebigen Kontakte aus ihrer Familie vor dem Lars-Wendepunkt stammen, die kurzlebigen Kontakte alle danach. Einzige Ausnahme ist ihr Bruder Gunnar, der auch relativ früh verstarb, wo ich aber keine Todesursache gefunden habe. Eine mögliche Erklärung für eine frühkindliche Traumatisierung bei ihm könnte die Geburt von Astrid sein, wo er mit 2½ Jahren gerade noch im kritischen Alter war und nicht verstand warum er sich die Mutterliebe jetzt mit einem Säugling teilen müsse. Bei Astrid und ihren Schwestern war das anders: diese hatten jeweils mehr als drei Jahre Abstand zur jeweiligen Nachgeborenen, weshalb sie bis zum Alter von drei Jahren quasi exklusiv die Mutter als Lehrmeister hatten.
Auf der anderen Seite die langlebigen Personen ihres Umfeldes, allen voran ihr Vater Samuel August, aber auch ihre Schwestern, die im Verwandtenkreis nur die “Bullerbü-Kinder” genannt wurden. Von ihnen hat Astrid Lindgren sicher die positive Lebenseinstellung, die unbeschwerte Lebensart trotz allen Leides, was für solche langlebigen Menschen typisch ist z.B. auch bei einer Betty White. Ihr Vater hatte sogar eine solche Frohnatur, dass selbst der Tod seiner über alle geliebten Frau (in die er sich schon mit 13 Jahren verliebte) ihn nicht aus der Lebensbahn warf. Weniger robuste Naturen hätten sich da weniger später dazu gelegt, wie z.B. ein Fritz Walter nach dem Tod seiner Frau Italia. Und mit ihren Schwestern pflegte Astrid Lindgren zu Beginn eines Telefongesprächs oder Treffens mit “Döden, Döden, Döden” (der Tod, der Tod, der Tod) alles Negative der Welt gleich abzuhaken und sich dann dem Leben zuzuwenden. Auch nicht zu vergessen Lindgrens Mutter, die zwar streng aber eine natürliche Autorität hatte, die sie nie missbrauchte. Noch nach ihrem Tod hat Lindgrens Vater sie in den höchsten Tönen als Mutter gelobt. Und wenn man von dem relativ frühen Tod von Gunnar absieht, dann hat sie bei der frühkindlichen Vermittlung der emotionalen Autoregulation bei ihren Kindern wohl nicht allzu viel verkehrt gemacht, wenn man deren Lebensdauer mal als groben Maßstab nimmt. Und dass Lindgren selbst keine so schlechte Mutter war als sie die Chance hatte eine richtige Mutter zu sein, zeigt sich wenn man sich das Alter ihrer Tochter Karin ansieht: aktuell schon 87 Jahre. Da kann auch nicht viel verkehrt gelaufen sein.

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One Response to Astrid Lindgren

  1. cassiel says:

    Es gibt eine Doku von 2015 (oder 2016) die auf arte gesendet wurde, im Moment noch(!) auf youtube verfügbar, die die hier skizzierte Tragik im Leben von Astrid Lindgren noch mal nachzeichnet. (Falls der youtube-Link irgendwann nicht mehr geht, kann ich auf Anfrage eine Privatkopie bereitstellen -> Kontakt über wwwahnsinn)

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