Pseudo-Qualitätsjournalismus: Das “Geheimnis” der japanischen Centenarians

Wenn man keine Ahnung hat:
einfach mal die Klappe halten
— Dieter Nuhr

Mit der alten Volksweisheit “Reden ist Silber, Schweigen ist Gold” tun sich die Leute, die sich Journalisten nennen, bekanntlich sehr schwer. Besonders wenn sie eigentlich gar keinen Schimmer haben von was sie da eigentlich reden und nur meinen sie könnten mit hochinvestigativ-sensationellen Erkenntnissen beim Medienrezipienten glänzen.
Ein aktuelles Beispiel ist der Artikel von Felix Lill in der Berliner Zeitung:
Biblisches Alter: Das Geheimnis der hochbetagten Japaner

“… verhaften Sie die üblichen Verdächtigen”

Da kündigt der Titel die sensationelle Lüftung des “Geheimnisses” wie die Japaner alt werden an und dann kommt nichts als heiße Luft bzw. die üblichen Allgemeinplätzchen wie “gesunde” Ernährung, Sport, Freunde und Familie usw. Mal ganz abgesehen von der primitiven Erkenntnis, dass eine Korrelation noch keine Kausalität ist, kommt dem Artikelautor gar nicht in den Sinn das was er da schreibt mal selbstkritisch zu hinterfragen, ob da nicht ein Denkfehler dabei sein könnte. Aber in Kriegspropagandazeiten und auch schon lange davor ist diese Tugend bei den deutschen “Qualitätsmedien” wohl nicht mehr en vogue, wenn sie es denn je war.
Wer diesen Blog liest ahnt es schon: “ungesunde” Gegenbeispiele, die trotzdem alt wurden fallen mir wie von selbst ein: eine 90-Jahre lange qualmende Jeanne Calment (122 Jahre), eine Fast Food fressende Betty White (99), eine täglich Gin saufende Queen Mum (101) und natürlich der unvergleichliche Helmut Schmidt (96), dessen einzige Angst war, dass die EU seine Mentholzigaretten verbietet. Letzterer sollte eigentlich jedem halbwegs gebildeten Journalisten in Deutschland ein Begriff sein. Dagegen eine Martina Navratilova, die bis in ihre 40er Profi-Sportlerin war, sich gesund ernährte, bekam mit um die 50 Krebs. Ich habe das als das Navratilova-Schmidt-Paradoxon bezeichnet. Es bedarf also eigentlich nicht viel Grips um ganz schnell Gegenbeispiele, sowohl in die eine, als auch die andere Richtung zu finden. Ja, sind das denn Übermenschen? oder nur “Einzelfälle”? Nein, aber vielleicht ist der Grund, dass jemand steinalt wird eben ein ganz anderer als die “üblichen Verdächtigen”, deren Gegenteil gleichermaßen für Krebs verantwortlich gemacht wird. Zumindest bis hierher sollte die Intelligenz eines Journalisten, zu dessen Berufsbild Recherchieren und kritisch Nachhaken gehört, reichen.
Tut sie nur offensichtlich nicht.

Vielleicht hätte er mal jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt
— Werbung “Gelbe Seiten”

Es verlangt ja keiner von den Schreiberlingen, dass sie zur gleichen Erkenntnis gelangen wie dieser Blog. Aber sie könnten sich zumindest Mühe geben die Meinung kompetenter Leute nicht nur einzuholen, sondern eben auch konträre, unkonventionelle Meinungen, die dann aber auch kritisch hinterfragen und beleuchten, dass nicht jeder Unsinn unkritisch und gleichrangig neben den qualifizierteren Ansichten zu Wort kommt. Ja, das macht natürlich mehr Arbeit als eben mal ein paar küchenpsychologische Allgemeinplätze zu einem Artikel zusammen zu schreiben, was aber zu journalistischer Fließbandproduktion nicht konkurrenzfähig ist. Wir stehen in Zeiten des Informationsoverkills vor dem Paradoxon, dass es den Leuten und selbst vermeintliche Profis an echter Technik- und Medienkompetenz mangelt um nicht wie Fettaugen auf der Suppe in Oberflächlich- und Belanglosigkeit gefangen zu bleiben.

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