Linie 1

Wie ich gerade in meinem anderen Blog schrieb, ist mir das Musical “Linie 1” nach Jahrzehnten bei der Lektüre der Berliner Zeitung wieder über den Weg gelaufen. Daraufhin habe ich mir die Spielfilmversion von 1988 noch mal angesehen, die ich schon vor Jahrzehnten mit meinem ersten eigenen VHS-Videorekorder aufgenommen hatte. Trotz schlechter Kritiken und Aufnahmequalität fand ich die Songs damals cool und ich war gespannt ob mit dem Abstand von Jahrzehnten und viel mehr Filmerfahrung nicht auch mein Qualitätsempfinden auf Abstand gegangen war, wie bei so vielem was in Kindheit und Jugend auf mich Eindruck machte.
Interessanterweise: ja, die Handlung ist gelinde gesagt dürftig, so man überhaupt von vorhanden sprechen will. Aber die Songs gehen immer noch ins Ohr. Und es sind die Nebenrollen, die die Hauptrolle spielen, wobei viele Darsteller der Originalbesetzung der Bühnenfassung mehrere Rollen spielen und ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen; ein Ratespiel der eigenen Art – damals; heute kann man einfach bei imdb und Wikipedia cheaten.

Aber ich würde ja nicht hier darüber schreiben, wenn ich dieses Musical mit dem Wissen dieses Blogs nicht heute auch mit ganz anderen Augen sehen würde. Da ist zum einen die Rolle der Lumpi, congenial – wie alle ihre anderen Rollen – gespielt von Petra Zieser. Lumpi hat offensichtlich Probleme mit ihrem Leben klar zu kommen und verhält sich psychisch auffällig und gleich am Ende ihres ersten Auftritts ritzt sie sich die Pulsadern auf, worauf ihr Freund Kleister mit den Worten “Das ist doch keene Himbeersoße” gerade noch Schlimmeres verhindern kann. Im späteren Verlauf des Musicals wirft sich Lumpi vor die U-Bahn und begeht doch Suizid, was alle auf die ein oder andere Art bewegt und zu Spekulationen veranlasst, warum sie das getan hat, die aber nicht über oberflächliche Vermutungen hinaus kommen. In den 1980ern war die Trauma- und bildgebende Hirnforschung noch in den Kinderschuhen. Das Flugtagunglück von Ramstein fand im gleichen Jahr 1988 statt und erst danach begann in Deutschland gegen viele institutionellen Widerstände durch das Ehepaar Jatzko so etwas wie Traumaarbeit. Leser dieses Blogs wissen es heute natürlich besser als in den 1980ern: frühkindliche Traumatisierung und chronischer Stress.

Was uns zur zweiten bemerkenswerten Figur bringt: Maria. Schon bei ihrer ersten Vorstellung mit dem Lied “Hey du” macht sie schon alles klar: “Meine Mutter die säuft. Ihr größtes Unglück war ick. Ick hasse die so wie die mich”. Auch frühkindlich traumatisiert. Nicht mal ein “warmer Ofen” in der Kindheit. Das ganze Lied werden die Folgen beschrieben. Und wie sie später erzählt, wollte sie sich auch schon vor die U-Bahn werfen, die dann aber nicht kam, weil sich schon jemand anderes vor ihr vor “ihre” U-Bahn geworfen hatte.

Dazu passt dann auch der Song “Gott segne unser dickes Fell”. Wer die emotionale Autoregulation gut erlernt hat, der hat wirklich das dicke Fell und dem macht der Stress nichts aus, weil er sofort davon wieder runter kommt.

Ja, und dann recherchiert man über die Darsteller und Autoren des Films und da trifft man auf den der diese Songs maßgeblich (mit-)geschrieben hat: Birger Heymann und seine Biographie. Und allein die Tatsache, dass er vergleichsweise früh mit 69 verstorben ist, lässt in Kombination mit seiner Musik vermuten, dass er auch frühkindlich traumatisiert war.

Und wenn man sich dann die Lebensdaten der Darsteller ansieht, dann sieht man auch wer das dicke Fell hatte und wer nicht. Ironischerweise leben die Darstellerinnen der “kaputten” Figuren noch, aber Inka Victoria Groetschel, die Darstellerin der Hauptrolle Sunnie, die im Film der Engel ist der für Maria weint, starb mit 41 an Krebs, ebenso Andreas Schmidt, der Darsteller der Rolle des Humphrey mit 53. Das krasse Gegenteil ist Dietrich Lehmann, der in allen 2000 Aufführungen mitgespielt hat und als einziger der Originalbesetzung übrig geblieben ist, mittlerweile 83 Jahre alt (geboren 1940).

Was uns zu der Frage bringt: was macht den Erfolg von “Linie 1” mit allein 2000 Aufführungen des GRIPS-Theaters, und von tausenden weiteren weltweit aus? Sind es diese kaputten Typen, die jede Großstadtzivilisation der Welt hervorbringt und auf der ganzen Welt wiedererkannt werden? In Dublin wie in Berlin? Gut möglich. Frühkindliche Traumatisierung ist ein Phänomen der westlichen Zivilisation, die sich vor allem durch den US-Kulturimperialismus weltweit ausgebreitet hat.

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