Erich Kästner (1899-1974)

K wie Kästner. Brilliant. Die Verse sind wunderbar gearbeitet. Mit der Hand genäht kein Zweifel.
Aber irgendetwas ist da nicht in Ordnung.

Es geht mir manchmal zu glatt. Die Rechnung geht zu gut auf. Ich glaube er ist nicht gefühllos. Kästner hat Angst vor den Gefühlen.
— Kurt Tucholsky über Erich Kästner, in:
Erich Kästner – das andere Ich (youtube, Doku, 2016)¹

Schon länger habe ich mir auch über den von mir sehr verehrten Erich Kästner Gedanken gemacht und Material gesammelt. Lange war das Bild uneindeutig. Einerseits alle Zeichen einer frühkindlichen Traumatisierung: ein literarisches Genie, unrastes Leben, Alkoholismus und früher Tod. Andererseits eine scheinbar lebenslang gute Beziehung zu seiner Mutter und auch die warmherzigen Mutterrollen in “Emil und die Detektive”, “Pünktchen und Anton” (nur die von Anton) und “Das doppelte Lottchen”.
Aber dann fand ich die o.g. Doku von 2016 auf youtube und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: seine Mutter hatte wohl eine bipolare Persönlichkeitsstörung oder etwas ähnliches. Einerseits war sie fordernd und fördernd gegenüber ihrem einzigen Kind, andererseits depressiv und suizidal, dass der kleine Erich schon als Kind die Verantwortung als dem einzigen Lebensinhalt seiner Mutter übernehmen musste und er darin lebenslang emotional gefangen war. Als Kleinkind war seine Mutter zwar anwesend, aber emotional gegenüber ihm abwesend. Und in der kindlichen Verzweiflung tat er alles um die Liebe seiner Mutter zu gewinnen bis zu ihrem Tod und darüber hinaus mit seiner Ersatzmutter Luiselotte Enderle. Heute würde man sagen er war co-abhängig, eine Art mütterliches Stockholm-Syndrom.
Das stand ihm dann auch immer wenn es um erwachsene Beziehungen zu Frauen ging in denen er andere Verantwortung als Ehemann und Vater hätte übernehmen sollen im Weg. Er hat diese Widersprüche vor der Öffentlichkeit meist gut hinter einer glatten, makellosen Fassade verbergen können. In dem in der Doku nachgestellten Interview von 1961 gelang ihm dies nicht mehr und er hatte danach einen Zusammenbruch. Kästner verstummte, sprach mehr und mehr dem Alkohol zu und verstarb 1974.

Kästners Schicksal ist um so bemerkenswerter als er das krasse Gegenteil von Astrid Lindgren zu sein scheint: beides stilbildende Kinderbuchautoren und doch emotional so vollkommen verschieden.
Es löst sich auf wenn man das Schicksal von Lindgrens Sohn Lars berücksichtigt. Lindgren sagte einmal, sie wäre sicher auch Schriftstellerin geworden, wenn ihr das mit Lars nicht passiert wäre, aber sicher keine weltberühmte. Und so verbindet beide weltberühmten Kinderbuchautoren die frühkindliche Traumatisierung, bei Kästner bei ihm selbst, bei Lindgren ihr Sohn Lars.

Manchmal schaut dich einer an
bis du glaubst, dass er dich trösten werde
doch dann senkt er seinen Kopf zur Erde
weil er dich nicht trösten kann.
Sei trotzdem kein Pessimist
sondern lächle wenn man mit dir spricht.
Keiner blickt dir hinter das Gesicht.
— Erich Kästner, Schlußtext in:
Erich Kästner – das andere Ich (youtube, Doku, 2016)

Kurt Tucholsky hat doch etwas geahnt, die Doku hat die biographischen Fakten zusammen getragen und hier steht die Auflösung.

¹ eine andere Quelle zitiert Tucholsky in etwas anderem Zusammenhang, aber so wie in der Doku zitiert wird der Zusammenhang zwischen Kästners Genie und dessen emotionaler Disregulation deutlicher

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