Valerie Horumsberg – Seelische Gewalt

Keine Gewalt!
— Astrid Lindgren

Die Berliner Zeitung hat eine Rubrik “Open Source” für die jeder Artikel einreichen kann. Auch von mir wurde schon ein Artikel zum Thema veröffentlicht und honoriert. Jetzt las ich dort einen weiteren bewegenden Artikel, der nahe zu lehrbuchhaft die Folgen frühkindlicher Traumatisierung beschreibt:

Der gesamte Artikel ist höchst lesenswert. Nur ein paar Schlüsselsätze möchte ich herausgreifen und kommentieren:

Ich war vier, […]. Ich saß gebeugt auf einer Bank, den Blick stumm auf meine Hände gesenkt, darum bemüht, mit nichts Aufmerksamkeit zu erregen. Sobald ich mich unbeobachtet glaubte, fischte ich mit kleinen Fingern ein Gummibärchen aus einer Tüte in meinem Rucksack.

Die konkreten Erinnerungen beginnen erst ab ca. 3 Jahren, aber schon hier ist das Kind in den sprichwörtlichen Brunnen gefallen bzw. die nicht erlernte emotionale Autoregulation wird schon durch entsprechendes Verhalten kompensiert, in diesem Fall Rückzug, Flucht ins innere Exil, Erstarren.

Keine der Kindergärtnerinnen bemühte sich, mich aus meinem Kokon der Erstarrung zu wickeln, keine schickte sich an, mich vor der Gehässigkeit der Kinder zu schützen.

Auch bezeichnend: das äußerlich ruhige, “pflegeleichte” Verhalten gibt dem sozialen Umfeld keinen Anlass zu intervenieren.

Tränen der Erschöpfung strömten in Bächen über meine Wangen, als meine Mutter mich mit lauten Vorwürfen überschüttete, mich anschrie und fragte, warum ich „so“ sei und womit sie das alles verdient habe. Ich weinte so leise wie nur möglich und wischte meine Nase am Ärmel ab, bis sie wund war. Eine Antwort hatte ich nicht.

Schon hier und im folgenden wird eine emotional kalte, lieblose und dazu noch übergriffige Mutter beschrieben. Das lässt rückschließen, dass es vorher und eben auch im Alter der seelischen Geburt nicht anders war.

In der ersten Klasse, als ich sechs war, begann das Mobbing.

Kinder können grausam sein. Schon in diesem Alter wird auf denen die Schwäche zeigen, herumgehackt.

Als ich acht war, wurde ich das erste Mal Opfer sexualisierter Gewalt.

Gerade ohnehin schwächere Mädchen, denen die Täter ihre besondere emotionale Schwäche und Verletzlichkeit ansehen, werden bevorzugt zusätzlich noch zu Opfern sexueller Gewalt.

Ich hatte gelernt, dass alles meine Schuld war.

Auch typisch: die Projektion und das Eingeredetbekommen als eigener Fehler des Opfers.

Als ich elf war, erhielt ich im Deutschunterricht völlig überraschend eine Eins mit Stern.

An dieser Stelle sei mir eine persönliche Anmerkung gestattet: das ist mir – der ich in Deutsch im ersten Zeugnis auf dem Gymnasium eine 5 im Diktat hatte – fast genauso ergangen, allerdings nur ein eine 1-. Vorgelesen wurde mein Aufsatz allerdings glücklicherweise nicht. Würde mich interessieren was für ein Aufsatz es war. Bei mir war es eine Sachbeschreibung und dieses didaktische Talent wurde mir später immer wieder bestätigt und hält bis heute an.

Er tat es fortan immer wieder und ich erstarrte etliche Male.

Wer nicht kämpfen und nicht fliehen kann, dem bleibt nur noch das Erstarren.

So sagte sie es auch, als sie mit mir bei der örtlichen Kinderpsychotherapeutin vorstellig wurde.

Leider nützen Therapeuten in den wenigsten Fällen etwas, und erst recht nicht, wenn eigentlich das soziale Umfeld therapiert werden müsste um Rücksicht und Verständnis zu erlernen.

Ich erkannte, dass in mir etwas war, das kämpfen konnte.

Das Kämpfen, die gesündeste Form der Kompensation wächst prinzipbedingt erst mit den physischen Fähigkeiten dazu, eben wenn man dem sozialen Umfeld nicht mehr hilflos ausgeliefert ist und in jeder Hinsicht mehr Möglichkeiten hat sich zu wehren. Insgeheim wünscht man sich das auch schon als Kind in seinen Machtphantasien, aber es fehlen eben die realen Möglichkeiten dazu.

Ich war Mitte zwanzig, als ich zu begreifen begann, warum ich so war, wie ich war,

Ein bedauerlicher Umstand, dass gerade die extremen Fälle zuerst selbst bemerken, dass und was nicht in ihrem Leben stimmt. Wer Glück im Unglück hatte und nichts Auffälliges in der Biographie findet, der tut sich da schwerer.

Ich war Ende zwanzig, als ich mich das erste Mal in einer toxischen Beziehung verfing. Als ich mich Jahre später daraus befreit hatte, ahnte ich nicht, dass ich einem Irrtum erlag, als ich schwor, dass das nie wieder passieren würde.

Ein gleichermaßen bedauerlicher Umstand, dass die toxische Beziehung zu den Eltern sich in den Partnerschaften spiegelt. Wer nur emotionalen Missbrauch kennt, der fürchtet sich vor der Welt ohne Missbrauch, die er nicht kennt und rutscht dann unwillkürlich von einer toxischen Beziehung in die nächste.

Ich war Anfang dreißig, als ich vorsichtig versuchte, mich meinen Freunden anzuvertrauen. Ich erntete „Das hat sie doch nicht so gemeint“ und „Du bist zu sensibel“ und „Deine Mutter ist doch total nett“.

Unverständnis des sozialen Umfeldes ist wenig hilfreich.

Ich war Mitte dreißig, als ich mich sterilisieren ließ, um sicherzugehen, dass ich niemals ein Kind so kaputt machen würde, wie es meine Mutter getan hatte.

Ein drastischer, sicher schmerzhafter Schritt auf Kinder und eigene Familie zu verzichten, aber psychische Traumata tradieren sich nun mal leider auf der mütterlichen Linie. Auch die Mutter der Autorin hätte in diesem Sinne besser kein Kind bekommen. Es ist eine Frage der Verantwortung gegenüber dem ungefragt in die Welt gesetzten Kind ob man diesem auch ein emotionales Zuhause bieten kann oder nicht. Verantwortungsbewußte Elternschaft kann viel Leid ersparen.

Ich schluckte die aufsteigenden Tränen, ich schob den lodernden Schmerz in mir weg, ich lächelte, machte Späße, ging nach Hause und verließ meine Eltern für immer. Ich musste mich selbst retten.

Eine meist späte, wenn nicht zu späte Erkenntnis Beziehungen, die einem nicht gut tun, konsequent abzubrechen.

Ich war Anfang vierzig, als ich zu verstehen begann und das Ausmaß der Zerstörung langsam begriff.

So ab 40 beginnt das Alter der Weisheit. Man blickt schon auf einige Jahrzehnte zurück und hat noch in etwa so viel vor sich. Zurück in die Kabine und Halbzeitbilanz ziehen.

Mit ihrer Ablehnung, ihrer Kritik, ihrem Hass hat sie mich konsequent gequält. Meinen Schmerz hat sie stets gesehen. Sie wollte ihn haben, weil sie aus ihm Stärke bezog. Sie hat ihn gebraucht.

Bedauerlicherweise kompensieren nicht wenige, selbst Traumatisierte ihr eigenes Seelenleid mit dem Leid anderer, was wie man an den Folgen sieht absolut unverantwortlich ist, besonders bei wehrlosen Kindern. Man kann und sollte das verstehen, aber nicht gut heißen.

Ich war fünfzig, als mein System zusammenbrach. Shut down. Game over. Die körperlichen Krankheiten kamen, die Depressionen, der Verlust meiner hart erkämpften finanziellen Unabhängigkeit.

Der Jahrzehnte andauernde chronische Stress fordert gemäß der ACE-Pyramide vermehrt ab den 50er Jahren seinen Tribut.

Die Todesangst des Säuglings lebte in mir wie an meinem ersten Tag.

“Die Seele eines Dreijährigen bleibt ihm 100 Jahre.”

Ich lebte wie ein Doppelagent unter permanentem Stress

und chronischer Stress macht krank und führt in letzter Konsequenz zum vorzeitigen Tod.

Auftanken und entspannen konnte ich nur, wenn ich zu Hause allein war. So sehr ich Menschen suchte, so sehr ich ihre Zuneigung ersehnte, so sehr stressten sie mich, sobald auch nur die kleinste Verbindlichkeit, das kleinste bisschen Nähe entstand.

Es ist und bleibt ein Zielkonflikt für Traumatisierte einerseits als Angehöriger einer hochsozialen Spezies auf Artgenossen angewiesen zu sein, andererseits aber eben diese zu meiden sind, weil sie eben der Grund für den Stress sind.

Ich war Mitte fünfzig, als ich erkannte, dass ich und mein Leben kaputt bleiben würden.

Frühkindliche Traumatisierung ist eben keine heilbare Krankheit, sondern eine lebenslange Behinderung.

Dass auch die späte Diagnose meiner Hochbegabung …

was eben auch eine Kompensationstrategie der Traumatisierung ist.

Und dass ich viel zu spät und nur unter erschöpfender Selbstausbeutung schließlich geworden war, was ich im Alter von elf bereits sein wollte: professionell Schreibende.

Schreiben und andere Formen des kreativen Schaffens verbinden sich mit der hohen Intelligenz zu einer effektiven Selbsttherapie, die besser ist als teure Stunden auf der Therapeutencouch, aber finanziell nicht unbedingt auskömmlich ist.

Das kleine Selbst des Kindes verkrüppelt auf ewig, während es hinter verschlossenen Türen schutzlos ausgeliefert ist. Manches Selbst stirbt gar. Weil Kinderseelen zart sind und zerbrechlich.

Wie es schon in dem Lied “Kinder” heißt: “Sind so zarte Seelen, offen und ganz frei / darf man niemals quälen, geh’n kaputt dabei”. //Sitting ducks// – ein leichtes Ziel.

Und weil erwachsene Täter immer wissen, was sie tun.

Dem Satz möchte ich bedingt widersprechen. Was missbräuchliche Eltern oder das soziale Umfeld tun ist falsch, lebenslang schädigend, verachtenswert, moralisch verwerflich, gesellschaftlich nicht zu tolerieren und nicht zuletzt verantwortungslos, aber sie tun es – mitunter in selbstbetrügerischer, pathologischer oder gedankenloser Weise – oft in gutem Glauben, ohne schlechtes Gewissen und ohne Wissen um die Folgen ihres Tuns. Soweit ich es den Schilderungen der Autorin entnehme, wurde ihre Mutter ebenfalls (frühkindlich) traumatisiert und war davon überzeugt, dass es nicht ihr Fehler, sondern der der Tochter war. Auffallend an der ganzen Geschichte: die Großmutter mütterlicherseits kommt darin gar nicht vor. Deren Charakterprofil wäre auch noch interessant gewesen bzw. deren Einstellung zu ihrer Tochter.
Das entbindet die Mutter keinesfalls von ihrer Verantwortung als solche ihrer Tochter und es macht ihr Tun keinen Deut weniger schlimm. Aber wenn es um die Schuldfrage geht, dann macht unser Rechtssystem deutliche Unterschiede ob eine im Ergebnis gleiche Tat grob fahrlässig bis hin zu heimtückisch mit voller Absicht begangen wurde. Auch wenn seelische Gewalt wie im Artikel bedauernd zur Kenntnis genommen wird (noch) nicht der schwere des Vergehens angemessen juristisch verfolgt wird bzw. noch gar nicht die Möglichkeiten gegen dieses “perfekte Verbrechen” hat und selbst wenn, der Schaden mit noch so viel Geld nicht wiedergutzumachen ist, müssen bei der moralischen Beurteilung doch rechtsstaatliche Maßstäbe gelten. Unwissenheit schützt dabei nicht vor Strafe bzw. bislang nur moralische Verurteilung, aber eine psychische Beeinträchtigung würde sich strafmildernd auswirken, was heutzutage selbst triebgesteuerten Massenmördern zugestanden wird – im Gegensatz zu Auftragskillern. Letztere werden klar zu einer lebenslängichen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Bewährung verurteilt werden, während sich bei ersterem die Frage nach einer Sicherheitsverwahrung zum Schutz der Bevölkerung noch stellt. Für die Gesellschaft mag effektiv das Gleiche dabei herauskommen, juristisch und moralisch jedoch sehr unterschiedlich.

Es gibt nur einen zielführenden Ausweg aus dem Dilemma von irreparabler Schädigung des Kindes, unverantwortlichem Handeln der Eltern in “gutem Glauben” und mangelhafter Justiziabilität eines Vergehens, das eben nicht wiedergutzumachen ist, sofern die Menschheit nicht kollektiv auf Fortpflanzung verzichtet – was nicht abzusehen ist: Aufklärung! Aufklärung über die Ursachen und Gefahren frühkindlicher Traumatisierung und Verantwortung der Elternschaft. Am besten schon in der Schule, wenn der andere Aufklärungsunterricht auch dran ist, also in der Mittelstufe solange die Schulpflicht noch greift und sie sich noch nicht in alle Winde zerstreut haben. Dann und nur dann kann das greifen was im Sinne aller Beteiligten am effektivsten ist: Prävention! Dem Kind, das gar nicht traumatisiert wird – sei es durch aufgeklärte, verantwortungsbewußte Eltern oder das eben mangels emotionaler Stabilität der Mutter gar nicht erst geboren wird – dem ist am meisten geholfen. Jede Nachbesserung, sei es psychotherapeutisch oder juristisch, kann nur dem Aufwischen verschütteter Milch gleichkommen – praktisch nutzlos, speziell für den traumatisch Betroffenen. Aber selbst wenn man das unbedingt juristisch bewerten und verurteilen will, ist die Schuldfrage bei Eltern, die aufgeklärt wurden und von daher wissen konnten was sie taten bzw. das nicht glaubhaft abstreiten können, eine ganz andere als dies derzeit in einer in dieser Hinsicht unaufgeklärten Gesellschaft der Fall ist.

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